Gemeindeenteignungen – die wahre Dimension

Die Agrarbehörde gibt erstmals 2019 Einblick in die Dimension des Unrechts.

I. Das volle Ausmaß der den Gemeinden verfassungswidrig entzogenen Liegenschaften wurde erst in neuerer Zeit durch folgende Umstände transparent:

1. Die umfassenden Grundbuchserhebungen des Tiroler Gemeindeverbands über das Gemeindegut und Gemeinschaftsgut in Tirol (2014–2016)

Auftrags des Tiroler Gemeindeverbands führte der Mieminger Gemeinderat Ulrich Stern in den Jahren 2014 bis 2016 eine „Bestandsaufnahme über das Gemeindegut und die gemeinschaftlich genutzten Flächen in Tirol“ durch. Dessen Ergebnisse und Auswertungen sind auf der Homepage des Tiroler Gemeindesverbands unter der Internetadresse www.gemeindeverband-tirol.at publiziert und für die Öffentlichkeit unbeschränkt einsehbar, aber auch unter dem Menüpunkt „Gemeindedaten“ dieser Homepage abrufbar. Damit wurden Transparenz und allgemeine Zugänglichkeit aller Basisdaten hergestellt und dadurch Grundlagen für eine faktenbasierte, aufrichtige und sachliche politische Diskussion geschaffen.

Auszug aus dem Vorwort des Präsidenten des Tiroler Gemeindeverbands Mag. Ernst Schöpf anlässlich der Präsentation der Bestandsaufnahme:

„Dem Tiroler Gemeindeverband ging es dabei darum, die Dimension des brennendsten Konfliktthemas zwischen der Landesverwaltung und den einzelnen Tiroler Gemeinden öffentlich aufzuzeigen. Wir müssen wissen, wovon wir reden!. „Wir“, [das] sind alle Bürgermeister und alle Gemeinderäte in Tirol, die Entscheidungsträger in Landtag und Landesregierung, aber vor allem alle Bürger, um deren Sozialkapital in den Gemeinden es grundsätzlich geht. Die Website ist ein Beitrag dazu.“


2. Die Beantwortung der Landtags-Anfrage Nr. 352/2019 durch den Agrarlandesrat LHStv Josef Geisler:

Die Beantwortung der Landtagsanfrage vom 01.08.2019, Nr. 352/19, durch Landesrat LHStv Josef Geisler enthält die zentrale Mitteilung, die Agrarbehörde habe in 234 Fällen Agrargemeinschaften bescheidmäßig als Gemeindegutsagrargemeinschaften festgestellt und 22 als solche kategorisiert (siehe zum näheren Inhalt:Landtags-Anfragebeantwortung vom 01.08.2019 im Original

  • Die dadurch erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordene Anzahl der selbst von offizieller Stelle anerkannten Gemeindegutsagrargemeinschaften führt auf Grundlage der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zwingend zum Ergebnis, dass jedenfalls in 256 Fällen offensichtlich verfassungswidrig Grundstücke, die im ehemals bücherlichen Eigentum der Gemeinden gestanden waren, auf Agrargemeinschaften übertragen wurden.

  • Die Landtags-Anfragebeantwortung Nr. 352/2019 verschleiert die Faktenlage und ist unvollständig: Eine substantielle Überprüfung der in der Beantwortung der Landtagsanfrage vom 01.08.2019 übermittelten Daten führt zusammengefasst zum korrigierten Ergebnis, dass in Tirol nicht nur jene 256 der in der Beantwortung der Landtagsanfrage angeführten Gemeindegutsagrargemeinschaften, sondern 154 weitere Agrargemeinschaften existieren, die gemäß dem historischen Grundbuch und der gegebenen Rechtslage als Gemeindegutsagrargemeinschaften zu qualifizieren sind (siehe dazu den obigen Punkt I.).

3. Dr. Heinrich Kienberger: „Die Rückübertragung des Gemeindegutes an die Gemeinden ist rechtlich möglich und verfassungsrechtlich geboten.“

Eine vom ausgewiesenen Verwaltungs- und Verfassungsrechtsexperten Dr. Heinrich Kienberger¹ Anfang des Jahres 2018 publizierte wissenschaftliche Abhandlung² enthält eine profunde Darstellung der rechtshistorischen Entwicklung des Gemeindeguts sowie der geltenden Rechtslage unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes sowie der maßgeblichen Fachliteratur. Kienberger erbrachte den rechtswissenschaftlichen Nachweis, dass der Rückführung des Gemeindegutes in das Eigentum der Gemeinden, denen es verfassungswidrig entzogen worden war, nicht nur keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, sondern dass eine solche Rückübertragung verfassungsrechtlich geradezu geboten ist.

¹ Dr. Heinrich Kienberger war Beamter im Amt der Tiroler Landesregierung, zuletzt Vorstand der Abteilung Verfassungsdienst und der Gruppe Präsidium, sowie langjähriges Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. Die anschließend angeführte wissenschaftliche Arbeit wurde von ihm kurz vor seinem Ableben im Jahr 2018 fertiggestellt.

² „Das Gemeindegut als Verfassungsproblem“, LexisNexis 2018

Verfassungswidriger Landraub: ein Fünftel der Fläche Tirols

II. Das Agrarunrecht in Zahlen

1. Gemeindeeigentum wurde verfassungwidrig auf mindestens 410 Agrargemeinschaften übertragen, nämlich auf:

> 234  von der Agrarbehörde (laut Landtags­anfrage­beantwortung) bescheidmäßig festgestellte Gemeindegutsagrargemeinschaften, bei denen im Zuge des „Regulierungsverfahrens“ die offenkundig verfassungswidrige entschädigungslose Übertragung des Eigentums am Gemeindegut an die Agrargemeinschaften stattgefunden hat.

57 Gemeindegutsagrargemeinschaften, bei denen entgegen der in der Beant­wortung der Landtagsanfrage enthaltenen Behauptung „vormals kein Gemeinde­eigentum“ im Regulierungszeitpunkt tatsächlich grundbücherliches Eigentum der Gemeinde vorgelegen hat.

> 50 Gemeindegutsagrargemeinschaften, bei denen entgegen der in der Anfrage­beantwortung Landtagsanfrage enthaltenen Angabe „kein Gemeindegut wegen Hauptteilung“ tatsächlich kein gesetz­mäßiges Hauptteilungs­verfahren stattgefunden hat und somit im Sinne des Gesetzes und der höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine Hauptteilung gegeben ist.

68 Gemeindegutsagrargemeinschaften, bei denen sich die Gemeindegutseigenschaft aus dem historischen Grundbuch ergibt, jedoch offenbar kein agrarbehördliches „Feststellungsverfahren“ stattgefunden hat.

Somit ist davon auszugehen, dass (mindestens) 410 Agrargemeinschaften mit einer Gesamtfläche von 2.350 km² im Wege agrarbehördlicher Verfahren eingerichtet worden sind und auf diese – sei es durch „Regulierung“ oder durch sogenannte Hauptteilung (Scheinhauptteilung) – offenkundig verfassungswidrig entschädigungslos das Eigentum am Gemeindegut übertragen worden ist.

2. Durch Regulierungsbescheide geknebelte Gemeinden mit „typischem Gemeindegut“

22 Tiroler Gemeinden mit einer Gemeindegutsfläche von insgesamt 575 km² wurde im Zuge von agrarbehördlichen „Regulierungsverfahren“ zwar das Eigentum an den Gemeindegrundstücken belassen („typisches Gemeindegut“). Zugunsten der neu gegründeten Agrargemeinschaften erfolgte jedoch mittels „Regulierungsbescheid“ die Zuschreibung der Bewirtschaftung der Gemeindegründe samt dem Großteil der laufenden Einkünfte daraus (z.B. aus Holzverkauf, Jagdpacht). Dadurch blieb auch diesen Gemeinden bis heute der Zugriff auf den Großteil des ihnen zustehenden Substanzwertes verwehrt.

Weiterführende Info:

→ Liste der Tiroler Agrargemeinschaften auf typischem Gemeindegut
Näheres in Kapitel Historie / 1945-2008 – Das System Wallnöfer

 

Nächstes Kapitel:

→ Rückübertragung