1945 bis 2008: Das System Wallnöfer

"Die Übertragung des Eigentums von den Gemeinden auf Agrargemeinschaften war politisch gewollt. LH Wallnöfer war stolz darauf, dass das in Tirol gelungen ist." LH-Stv. Anton Steixner.

2.350 km² Gemeindegrund wurde in Agrarverfahren verfassungswidrig an Agrargemeinschaften übertragen!

Nahtlose Fortsetzung der Nazi-Regulierungen

Die brutalen NS-Enteignungen der Osttiroler Gemeinden (siehe Kapitel NS-ZEIT-OSTTIROL 1938 bis 1945) dienten als Drehbuch für den flächendeckenden Rechtsbruch in Nordtirol. Nach 1945 setzte die Tiroler Landesregierung die unter nationalsozialistischer Herrschaft in Osttirol begonnenen Enteignungsmaßnahmen auch in Nordtirol mit großem Eifer fort. Das „Modell Osttirol“ wurde vom späteren Landeshauptmann ÖkR Eduard Wallnöfer, dem damaligen Obmann des Bauernbundes und für Agrarsachen zuständigen Landesrat, aufgenommen und ausgebaut.

Dem politischen Auftrag der Mehrheitspartei ÖVP entsprechend missbrauchten Mitglieder der Tiroler Landesregierung und etliche bei der Agrarbehörde beim Amt der Tiroler Landesregierung tätige Beamte die Regelungsinstrumente des Flurverfassungsrechtes zur Erreichung partei- und standespolitischer Ziele: Es sollte das Liegenschaftsvermögen der Gemeinden möglichst in die Hand weniger alteingesessener Bauern – traditionell treue Mitglieder des Tiroler Bauernbunds – ohne jegliche Entschädigung verschoben werden.

Darüber hinaus ebnete die Agrarbehörde dem noch nicht grundbücherlich durchgeführten Teil der Haller’schen Bescheide (vgl. Kap. NS-Zeit Osttirol 1938 – 1945) den Weg zum Grundbuch.

Weiterführende Info:

A. Rechts- und verfassungswidrige Enteignungen der Gemeinden durch agrarbehördliche „Regulierungsverfahren“

Die Verfassungs- und Gesetzwidrigkeit der im Folgenden aufgezeigten Machenschaften wurde vom Verfassungsgerichtshof in zwei grundlegenden Erkenntnissen (VfSlg 9336/1982 vom 01.03.1982 und VfSlg 18.446/2008 vom 11.06.2008) mit aller Deutlichkeit aufgezeigt. Im zuletzt zitierten Erkenntnis hob der VfGH hervor, dass die gerügte Verfassungswidrigkeit offenkundig war.

Diese offenkundigen Verstöße gegen die österreichische Bundesverfassung sind aber nicht zu Zeiten der Monarchie passiert, als die Staatsordnung noch auf dem Prinzip der Ungleichheit beruhte, sondern geschahen in der II. Republik unter dem dominanten Einfluss der in Tirol seit Jahrzehnten (bis 1989 mit absoluter Mehrheit) regierenden, vom Tiroler Bauernbund dominierten und gelenkten Österreichi­schen Volkspartei. Schon längst galt damals jene auf den Grundpfeilern der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz basierende Verfassung, die heute die Grundlage unseres Staates bildet (oder zumindest bilden sollte).

1. „Regulierungen“ mit gesetzloser, verfassungswidriger Eigentumsübertragung (Gesamtausmaß 2.350 km2)

1.1 Regulierungsverfahren

Im Rahmen sogenannter „Regulierungsverfahren“ wurden Grundstücke, die seit jeher im Eigentum der Gemeinden gestanden waren, mittels von der Tiroler Agrarbehörde erlassener Bescheide ohne jegliche Gegenleistung in das Eigentum von eigens zu diesem Zweck neu gegründeten Agrargemeinschaften übertragen oder das Eigentumsrecht der Agrargemeinschaften an diesen Grundstücken festgestellt. Den solcherart enteigneten Gemeinden verblieb nur mehr ein geringfügiges, manchmal aber auch gar kein Anteilsrecht an der Agrargemeinschaft, und es wurden ihnen dadurch die Einkünfte aus dem Gemeindegut entzogen.

Dadurch erlangten die Agrargemeinschaften das Eigentumsrecht und damit das volle Verfügungsrecht über die Gemeindegründe. Die Gemeinde – und damit die überwiegende Mehrheit ihrer Bürger – waren hingegen entschädigungslos ihres Gemeindegutes beraubt!

In seinem Erkenntnis vom 11.06.2008, VfSlg 18.446, stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass diese im Rahmen derartiger „Regulierungsverfahren“ erfolgten Eigentumsübertragungen offenkundig verfassungswidrig erfolgt sind und nicht geeignet waren, den Gemeinden das „materielle Eigentum“ an diesen Liegenschaften zu entziehen, da ihnen der Substanzwert am Gemeindegut schon immer gehört hat und ungeachtet der gesetzlosen Eigentumsübertragungen auch weiterhin zukommt.

„Offenkundig verfassungswidrig“ bedeutet, dass die Verfassungswidrigkeit des behördlichen Handeln für jedermann, also auch für die ressortverantwortlichen Politiker und für die die Regulierungsverfahren durchführenden sowie die Bescheide erlassenden Beamten der Agrarbehörde – ohne weiteres erkennbar war.

Weiterführende Info:

1.2 Scheinhauptteilungen als Spielart der „Regulierungen“:

Eine Spielart der oben angeführten Regulierungen stellen sogenannte „Hauptteilungen“ dar:

Eine Hauptteilung stellt grundsätzlich eine Auseinandersetzung zwischen der Gemeinde und einer Agrargemeinschaft dar, die stets zur Aufteilung des Gemeindeguts in Grundflächen, die einerseits im nicht mehr durch Nutzungsrechte belasteten Alleineigentum der Gemeinde und andererseits im Alleineigentum der Agrargemeinschaft stehen, führt.

Eine Hauptteilung hat nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs folgende zwingende Gültigkeitserfordernisse zu erfüllen:

  • Die Hauptteilung hat das gesamte Gemeindegut zu erfassen.
  • Zwingend ist eine vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Agrargemeinschaft mit Wertermittlung und wertadäquater Abfindung für die Rechte der Gemeinde durchzuführen.
  • Es muss ein rechtskräftiger, die Eigenschaft als Gemeindegut beendender Behördenakt vorliegen.

In keinem einzigen der mit „Hauptteilung“ überschriebenen „Regulierungsverfahren“ sind von der Agrarbehörde diese in §§ 42 bis 48 TFLG zwingend normierten Vorgaben für die Hauptteilung von der Agrarbehörde auch nur ansatzweise eingehalten worden. Insbesondere erfolgte niemals eine von der Rechtsprechung als unabdingbar notwendig angesehene gleichwertige Abfindung der Gemeinden mit unbelasteten Grundstücken.

Damit stellen sich diese „Scheinhauptteilungen“ im Ergebnis ebenso als offenkundig verfassungswidrige entschädigungslose Enteignungen der Gemeinden dar. Auch sie konnten daher das Recht der Gemeinden auf den Substanzwert und somit auf das „materielle Eigentum“ nicht beseitigen.

Weiterführende Info:

Die Tiroler AgrarpoIitik bedient seit jeher die Klientel Bauernbund mit offenkundig verfassungswidrigen Regulierungsbescheiden.

Verfassungsgerichtshof: Das Gemeindegut ist wahres Eigentum der politischen Gemeinde.

1.3. Die Verfassungswidrigkeit der sogenannten „Regulierungen“ war Politik und Behörde bekannt

  • Die Agrarbehörde war zu keinem Zeitpunkt berechtigt, bestehende Eigentumsverhältnisse zu ändern. Den Nutzungsberechtigten stand zu keiner Zeit mehr als der konkrete „Haus- und Gutsbedarf“ zu.

  • Insgesamt handelt es sich bei dem von der Agrarbehörde benützten terminus technicus „Regulierung“ in Wahrheit um eine den entschädigungslosen Enteignungsvorgang beschönigende und verschleiernde Wortschöpfung. Für eine derartige die Eigentumsverhältnisse am Gemeindegut unzulässig ändernde „Regulierung“ bestand keinerlei rechtliche Grundlage.

Die Verfassungswidrigkeit dieser Vorgehensweise war sowohl der Tiroler Agrarbehörde als auch – wie aus schriftlichen Unterlagen klar hervorgeht – dem Agrarlandesrat und späteren langjährigen Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, der in Personalunion Obmann der ÖVP-Teilorganisation Bauernbund war, bekannt.

  • Die Gemeindevertreter ließen diese Bescheide in den allermeisten Fällen unangefochten, manche wohl aus Eigennutz (zumal viele Bürgermeister und Gemeinderäte selbst Mitglied einer Agrargemeinschaft und somit Nutznießer dieser rechtswidrigen Vorgänge waren), andere aus Parteidisziplin oder vielleicht auch aus Unwissenheit.

Anmerkung:
Ein Gemeinderatsbeschluss ist (lediglich) als Zustimmung zu der von der Agrarbehörde mit Bescheid vorgenommenen Eigentumsübertragung, nicht aber als eine auf den Abschluss eines Vertrages gerichtete Willenserklärung zu werten (Kienberger, Das Gemeindegut als Verfassungsproblem [NexisLexis 2018], S 28).

Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es einige couragierte Bürgermeister und Gemeinderäte gegeben hat, die für ihre Gemeinden in die Bresche sprangen und sich – wenn auch meist erfolglos – zur Wehr setzten. Oft wurde dann seitens der Agrarbehörde mit weiteren Verfahrensschritten ein oder zwei Legislaturperioden zugewartet, bis wieder ein anderer Bürgermeister gewählt war, mit dem man leichteres Spiel hatte.

Weiterführende Info:

2. Regulierungen ohne Eigentumsübertragung – die gesetzwidrige Knebelung nicht enteigneter Gemeinden durch Regulierungsbescheid:

  • 22 Tiroler Gemeinden mit einer Gemeindegutsfläche von insgesamt 575 km2 wurde im Zuge von agrarbehördlichen „Regulierungsverfahren“ zwar das Eigentum an den Gemeindegrundstücken belassen („typisches Gemeindegut“). Zugunsten der neu gegründeten Agrargemeinschaften erfolgte jedoch mittels „Regulierungsbescheid“ die Zuschreibung der Bewirtschaftung der Gemeindegründe samt dem Großteil der laufenden Einkünfte daraus; z.B. Holzverkauf, Jagdpacht, aber auch Autobahnstationen, Campingplätze, Entschädigung für Schipisten, etc. Damit blieb den Gemeinden der Zugriff auf den Großteil des ihnen zustehenden Substanzwertes verwehrt, dies bis heute.
  • Der Verfassungsgerichtshof warf in seinem Erkenntnis vom Juni 2008 (VfSlg 18.446/2008 „Mieders I“) der Agrarbehörde vor, dass diese mit der gebotenen amtswegigen Abänderung der Regulierungspläne seit langem (nämlich spätestens seit dem Grundsatzerkenntnis des VfGH vom 01.03.1982 [VfSlg 9336/1982]) säumig sei, weil es schon längst behördliche Aufgabe gewesen wäre, den Gemeinden zu ihrem Substanzanteil zu verhelfen.
  • Auch die jeweiligen Bürgermeister hätten spätestens seit 2008 die für das Gemeindegut geltenden Bewirtschaftungsvorschriften laut TGO einhalten und einfordern müssen (so unter anderem die Beschränkung der Nutzungsrechte auf den konkreten Haus- und Gutsbedarf).

Anmerkung:

    • Die vom VfGH im Jahr 2008 urgierten amtswegigen Änderungen der Regulierungspläne sind bis heute ausgeblieben.
    • Durch diese politisch gewollten Versäumnisse entgehen den betroffenen Gemeinden seit Jahrzehnten ihnen zustehende Erträgnisse in beträchtlichem Umfang.
    • Profiteur ist – wie so oft von der Tiroler Landespolitik gewollt – eine bevorzugte Klasse von Gemeindebürgern.

Weiterführende Info:

B. Das Erkenntnis des VfGH vom 01.03.1982, VfSlg 9336/1982:

Mit seinem Grundsatzerkenntnis VfSlg 9336/1982 – die bis dahin wichtigste höchstgerichtliche Entscheidung für das Gemeindegut – stellte der Verfassungsgerichtshof klar, dass die Übertragungen des Eigentumsrechts an den Gemeindeliegenschaften auf Agrargemeinschaften wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes grob verfassungswidrig waren.

Im Einzelnen führte das Höchstgericht aus:

  • Das Gemeindegut im Sinne der Gemeindeordnungen ist nicht nur formell der Gemeinde zugeordnet, sondern auch materielles Eigentum der Gemeinde und nur insofern beschränkt, als es mit bestimmten öffentlich-rechtlichen Nutzungsrechten einiger oder aller Gemeindeglieder belastet ist, sodass die Substanz und also auch der Substanzwert und ein allfälliger Überschuss der Nutzungen der Gemeinde als solcher zugeordnet bleiben.

  • Daher handelt es sich beim Gemeindegut um wahres Eigentum der politischen Gemeinde.

  • Daher stehen den Nutzungsberechtigten lediglich althergebrachte Nutzungsrechte (Holz und Weide im Umfang des sogenannten Haus- und Gutsbedarfs) zu. Die Agrargemeinschaft hat aber keinen Anspruch auf (gänzliches oder teilweises) Eigentum am Gemeindegut sowie auf Übertragung des Eigentumsrechts.

  • Jedenfalls unzulässig ist es, die bloßen Nutzungsrechte am Gemeindegut in Anteile an der Substanz zu verwandeln. Vielmehr steht die (über die Summe der Nutzungsrechte hinausgehende) Substanz des Gemeindegutes der Gemeinde zu.

 

Diese Entscheidung des VfGH stellte auch für jene Beamten, die sich bis zum Jahr 1982 in einem Irrtum befunden hatten, folgendes unmissverständlich klar:

  • Alle bis dahin getroffenen Entscheidungen, wonach Gemeindegut oder Fraktionsgut im Eigentum einer – hauptsächlich aus Nutzungsberechtigten gebildeten – Agrargemeinschaft stehe, waren unrichtig.

  • Die Regulierung darf nicht dazu führen, dass eine Gemeinde das aus ihrem (ehemaligen) Eigentum am Gemeindegut resultierende Recht auf die Substanz des Gemeindegutes an die Nutzungsberechtigten verliert.

Von Seiten der Tiroler Landesregierung sowie der Tiroler Agrarbehörde wurde jedoch dieses höchstgerichtliche Erkennntnis bewusst unterdrückt; die darin enthaltenen rechtlichen Vorgaben wurden sehenden Auges ignoriert (demaskierend dazu: Auszug aus den Erläuternden Bemerkungen zur TFLG-Nov. 1984).

Offenbar nicht dem Recht, sondern allein dem Vorteil und Schutz ihrer Klientel verpflichtet, setzten die Tiroler Landespolitik sowie ihr willfähriges „Werkzeug“ Tiroler Agrarbehörde ihr verfassungswidriges Handeln weiter fort:

  • Unverfrohren erfolgte auch nach dem VfGH-Erkenntnis 1982 die Gründung weiterer 81 Agrargemeinschaften , auf welche – im Hinblick auf die ihr bekannt gewordene Entscheidung des VfGH zu VfSlg 9336/1982 offenkundig verfassungswidrig – das Eigentum am Gemeindegut übertragen wurde.

  • Damit flossen den Nutzungsberechtigten weiterhin unberechtigt die Einkünfte aus Grundverkäufen, Schotterabbau sowie Schipisten und anderen Unternehmungen zu. Ausdrücklich gestand die Agrarbehörde und der dieser übergeordnete Landesagrarsenat den Agrargemeinschaften völlig rechtswidrig auch die Einkünfte aus der Jagd und dem Überling zu. Der dadurch den betroffenen Gemeinden erwachsene Schaden ging in die Millionen Euro.

  • Eine strafrechtliche Überprüfung

    • des – wie der VfGH im Jahr 2008 feststellen sollte – offenkundig verfassungswidrigen hoheitlichen Handelns der Agrarbeamten und des jeweiligen ressortzuständigen Agrarlandesrats

    • sowie der Rolle jener Bürgermeister, welche die erkennbar zu hohen finanziellen Belastungen und nachhaltigen Schäden ihrer Gemeinden führenden Verwaltungsbescheide ohne qualifizierte Rechtsberatung und ohne Ergreifung geeigneter Rechtsmittel in Rechtskraft erwachsen ließen,

durch die Staatsanwaltschaft fand entweder nicht statt oder führte zu keinen Verfolgungshandlungen.

Es bedurfte des „Aufschreis“ der Gemeinde Mieders gegen die politische und behördliche Fortführung der Enteignung der Gemeinde zugunsten einer Minderheit, der zu dem im folgenden Kapitel („2008 Das VfGH-Erkenntnis „Mieders I“ – ein politisches Erdbeben“) dargestellten grundlegenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11.06.2008, VfSlg 18446, führte.

Weiterführende Info:

Nächstes Kapitel: