- Es kann keine Rede davon sein, dass den Beamten der Tiroler Agrarbehörde die richtungsweisenden Entscheidungen des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes verborgen geblieben wären und dass sie die sich aus diesen Entscheidungen ergebenden rechtlichen Konsequenzen nicht gekannt hätten.
- Dies ergibt sich insbesondere aus dem Inhalt einer vom Amt der Tiroler Landesregierung/Abteilung Agrargemeinschaften erarbeiteten Schulungsunterlage. Dass darin die einschlägigen höchstgerichtlichen Erkentnisse richtig zitiert und daraus durchaus strukturierte und zutreffende rechtliche Schlussfolgerungen gezogen wurden, kann wohl nur als „Betriebsunfall“ gewertet werden, fanden doch diese Ausführungen kaum Eingang in das Wirken der Tiroler Agrarbehörde und der Tiroler Agrarpolitik.
Weiterführende Info:
1. Missachtung des VfGH-Erkenntnisses durch Politik und Verwaltung
Auch nach der Erlassung des Erkenntnisses hat die Tiroler Landesregierung die Vorgaben Verfassungsgerichtshofs nur zögerlich und keineswegs verfassungskonform umgesetzt:
- Insbesondere blieb den Gemeinden der direkte Zugriff auf das seinerzeit in ihrem bücherlichen Eigentum gestandene, verfassungswidrig auf (437) Agrargemeinschaften übertragene Gemeindegut weiterhin verwehrt.
- Hinsichtlich jener 24 Gemeinden, denen zwar das bücherliche Eigentum am Gemeindegut („typisches Gemeindegut“) belassen, jedoch mittels „Regulierungsbescheid“ die Bewirtschaftung der Gemeindegründe samt sämtlichen Überschüssen entzogen wurde, blieb die Forderung des Verfassungsgerichtshofes, wonach es „schon lange Aufgabe der Agrarbehörde gewesen wäre, die Regulierungen den geänderten Verhältnissen anzupassen“ gänzlich ignoriert (vgl. Übersicht zum typischen Gemeindegut in Tirol). Damit forderte der VfGH einerseits die Beschränkung der Nutzungsrechte auf den Haus- und Gutsbedarf und andererseits die Berücksichtigung der starken Abnahme der Anzahl der Nutzungsberechtigten Bauern ein.
- Sowohl die Juristen der erstinstanzlichen Agrarbehörde als auch die Mitglieder des (zweitinstanzlich tätigen) Landesagrarsenats zeichneten sich weiterhin dadurch aus, die vom VfGH im zitierten Erkenntnis unmissverständlich formulierten verfassungsrechtlichen Vorgaben offenbar bewusst zu ignorieren.
- Die vielfach geforderte, längst fällige Umsetzung mahnte der Landtagsabgeordnete Dr. Andreas Brugger in seinem an LH Günther Platter gerichteten Schreiben vom 02.12.2010 nachdrücklich ein. Dessen ungeachtet sahen sich die offenbar ihrer Klientel bedingungslos verpflichteten politischen Entscheidungsträger des Landes nicht zu einer verfassungskonformen Umkehr veranlasst.
- Als „offenkundig verfassungswidrig“ hatte der VfGH die Übertragung des Gemeindeguts auf Agrargemeinschaften mit breiter Begründung qualifiziert.
Ob für das geradezu habituelle behördliche Zuwiderhandeln gegen die klaren verfassungsrechtlichen Vorgaben des Höchstgerichts juristisches Unvermögen maßgebend war oder diesem vielmehr wissentliche Ignoranz zugrundelag, wurde zu keinem Zeitpunkt von der Strafverfolgungsbehörde überprüft.
Festgehalten sei an dieser Stelle, dass die Judikatur des ab 01.01.2014 neu etablierten – mit unabhängigen und unabsetzbaren Richtern besetzten – Landesverwaltungsgerichts Tirol im Vergleich zu jenen des (mit Ablauf des 31.12.2013 aufgelösten) Landesagrarsenats in puncto Rechtsqualität und Verfassungstreue eine erkennbare Steigerung erfuhr.
2. Faktenwidrige Feststellungsverfahren
- In circa 100 sogenannten Feststellungsverfahren wurde mit Bescheiden der Agrarbehörde fakten- und/oder gesetzwidrig festgestellt, dass es sich bei den gegenständlichen Liegenschaften um keine Gemeindegründe, sondern um Eigentum der jeweiligen Agrargemeinschaft handle – ein für die Mehrheit der Gemeindebürger kostspieliger Skandal.
- Die von der Agrarbehörde ab dem Jahr 2008 forcierten Feststellungsverfahren, mit denen Gemeinden wiederum das ihnen materiell gehörige Gemeindegut verfassungswidrig entschädigungslos weggenommen werden sollte, fanden weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit
- Die Bescheiderlasser bezweckten mit diesen Feststellungsverfahren offenbar, den Gemeinden den ihnen materiell zustehenden Substanzwert zu entziehen, obwohl sie bereits seit dem Jahr 1982 wissen mussten, dass derartige Feststellungsbescheide, denen lediglich deklarative (=beschreibende) Wirkung zukommt, dazu rechtlich nicht in der Lage sind (VfSlg 9336).
→ siehe dazu: Kap. Feststellungsverfahren
3. Die TFLG-Novellen 2010, 2014 und 2017 gingen ins Leere:
- Die TFLG-Novellen 2010, 2014 und 2017 vermochten nicht die im Entzug des formalen Eigentums am Gemeindegut gelegene Verletzung der Rechtsposition der betroffenen Gemeinde zu beseitigen (vgl dazu: Kienberger in „Das Gemeindegut als Verfassungsproblem, LexisNexis 2018, Kap. VI. S 35 – 42 und Kap. VII. S 47).
- Die von Politik und Verwaltung zu verantwortenden Versäumnisse und Verzögerungen wirken sich ausschließlich zu Lasten der Gemeinden aus, denen insbesondere der direkte Zugriff auf das ihnen rechtswidrig entzogene Grundeigentum bis heute verwehrt blieb.
- Ebenso änderte sich nichts an der durch überschießende Regulierungen zugunsten der Agrargemeinschaften erfolgten Knebelung jener 22 24 Gemeinden, denen das bücherliche Eigentum am Gemeindegut nicht entzogen worden war.
3.1 Die TFLG-Nov. 2010:
Die Einnahmen aus dem Überling und Jagdverpachtung blieben weiterhin verfassungswidrig den Agrargemeinschaften zugeordnet.
Weiterführende Info:
- Anmerkungen zur TFLG-Nov. 2010
- Brugger, Die Entscheidung des VfGH VfSlg 18.446/2008 – Reaktionen
3.2 Die TFLG-Nov. 2014:
- Aus § 72 TGO folgt, dass die Nutzer des Gemeindegutes den ihrer Nutzung entsprechenden Anteil an den Aaben und Betriebskosten des Gemeindegutes zu tragen haben.
- Die durch die Tiroler Landesregierung zur Abdeckung des Aufwands der Bewirtschaftung des Gemeindeguts festgesetzten Beiträge der Nutzungsberechtigen („Bewirtschaftungskostenbeiträge“) sind bei weitem nicht kostendeckend. Dies führt im Ergebnis zu einer neuen eminenten Kostenbelastung der Gemeinden (somit der Allgemeinheit) zugunsten der Nutzungsberechtigten.
Weiterführende Info:
Bewirtschaftungskostenbeiträge
- Das mit der Installierung der Funktion des Substanzverwalters verfolgte Ziel, die Durchsetzung der Ansprüche der substanzberechtigten Gemeinde und der Stärkung ihrer Rechtsposition gegenüber der Agrargemeinschaft sicherzustellen, wurde klar verfehlt.
Weiterführende Info:
Der Substanzverwalter – ein Fehlkonstrukt
- Die verfassungswidrig zeitlich viel zu knapp bemessene Festlegung des Stichtags für die rückwirkende Geltendmachung von Rückforderungsansprüchen der Gemeinden aus von Agrargemeinschaften unrechtmäßig bezogenen Einkünften („Stichtagsregelung“) führten zu eminenten Verlusten der Gemeinden.
Weiterführende Info:
Die Stichtagsregelung – ein weiterer Anschlag auf das Gemeindevermögen
3.3 Die TFLG-Nov 2017:
In der Novelle des TFLG 2017 legte der Landesgesetzgeber sodann die Stichtage für Erträge aus dem Überling mit 1. Juni 2008 und für Erträge aus der Substanz mit 1. Juni 1998 neu fest. Diese immer noch äußerst kurz bemessenen (neuen) Rückrechnungszeiträume wurden jedoch nicht mehr bekämpft.
Anzumerken gilt, dass die zu Lasten der Gemeinden eingeführten Regelungen zum „Substanzverwalter“ und zu den „Bewirtschaftungskosten“ auch von der TFLG-Nov 2017 unberührt blieben und daher nach wie vor aufrecht sind.
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